Gemäß einer Definition des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) beschreibt die Versorgungsforschung die „Wirklichkeit der medizinischen Versorgung“, sie „liefert Informationen über Einsatz, Erfolg und Risiken von diagnostischen und therapeutischen Verfahren sowie Versorgungskonzepte unter Alltagsbedingungen“ und „beantwortet Fragen, die weder die biomedizinische Grundlagenforschung noch die klassische klinische Forschung beantworten können“ [89].
Die Versorgungsforschung hat in den letzten zwei Jahrzehnten wesentlich zum Verständnis und zur Definition einer qualitativ hochwertigen Tumortherapie beigetragen [283] und stellt ein Schlüsselelement der modernen Onkologie in der Langzeitevaluation Patient*innen-bezogener Endpunkte dar [250].
Versorgungs- bzw. Real-World Data (RWD)-Studien gewinnen in der modernen Onkologie zunehmend an Bedeutung und werden auch zunehmend international gewürdigt [251, 252, 253, 254]. Die Ergebnisse der RWD-Studien zur Misteltherapie lassen sich wie folgt zusammenfassen:
Implementierung und Sicherheit
Integrativmedizinische onkologische Therapien werden von onkologischen Patient*innen unterschiedlicher Altersklassen gut angenommen und sind in den Versorgungsalltag der von der Deutschen Krebsgesellschaft zertifizierten Krebszentren implementierbar [16, 19].
Die subkutane Misteltherapie ist ebenso wie die intravenöse und intratumorale Anwendung (beide off label) in Kombination mit anderen Tumortherapien sicher und weist ein mildes bis moderates Nebenwirkungsprofil auf [93, 94, 95, 96].
In einer multizentrischen pharmako-epidemiologischen Kohortenstudie wird darauf hingewiesen, dass die Anwendung des Mistelextrakts (Iscador Qu) beim Kolorektal-Karzinom die Nebenwirkungen der Standardtherapie (Chemo-/Radiotherapie) verringert, krebsassoziierte Beschwerden lindert und zur Verbesserung des metastasenfreien Überlebens beitragen kann [103].
Bei gleichzeitig zur Krebserkrankung bestehenden Autoimmunerkrankungen wie Hashimoto-Thyreoiditis, Psoriasis, Colitis ulcerosa, Morbus Basedow oder Sjögren-Syndrom ist eine zusätzliche Misteltherapie möglich [255].
Mistelextrakte, die in Kombination mit monoklonalen Antikörpern [65, 67], einer zielgerichteten Therapie [67] oder PD-1, PD-L1 und CTLA-4 Inhibitoren gegeben werden, verstärken oder erweitern nicht das Nebenwirkungsprofil dieser Therapien. Vielmehr ist die Nebenwirkungsrate bei einer Antikörpertherapie mit zusätzlicher Misteltherapie im Vergleich zur Antikörpertherapie alleine um den Faktor 5 niedriger [65] und bei einer zielgerichteten Therapie in Kombination mit Misteltherapie konnte die Abbruchrate der Behandlung mit konventionellen Krebsmedikamenten halbiert werden. Zudem sind die Nebenwirkungsraten signifikant geringer im Vergleich mit einer alleinigen zielgerichteten Therapie [67].
Lebensqualität
Eine zusätzliche Misteltherapie ist bei nichtmetastasiertem Mammakarzinom auch dann sinnvoll, wenn es darum geht, z. B. Schmerzen und andere tumorassoziierte Symptome langfristig (über ca. fünf Jahre) abzuschwächen, mit der konventionellen Behandlung verbundene Beschwerden wie z. B. Fatigue zu lindern und die Lebensqualität zu verbessern [33]. Es konnte gezeigt werden, dass finanzielle Sorgen bei Menschen mit Mamma- und Lungenkarzinom signifikant mit tumorbedingten emotionalen und körperlichen Beschwerden assoziiert sind [306, 308].
Die Auswertung des ,European Organization for Research and Treatment Quality of Life' Fragebogens (EORTC-QLQ-C30) zeigte Verbesserungen der emotionalen und sozialen Funktionen und der Rollenfunktion nach zusätzlicher Misteltherapie bei Patientinnen mit nicht-metastasiertem Mammakarzinom [97]. Zwei weitere Studien ergaben – ebenfalls bei Patientinnen mit nicht-metastasiertem Mammakarzinom – eine nachhaltige Verbesserung des Wärmeempfindens durch die zusätzliche Misteltherapie [98, 99, 310]. Zum positiven Einfluss auf die Thermokohärenz zeigte eine Real-World Data (RWD)-Studie auch eine Verbesserung von Müdigkeit, Schlaflosigkeit und körperlicher Funktionsfähigkeit bei Patientinnen mit nicht-metastasiertem Mammakarzinom [284].
Bei Patient*innen mit nicht-metastasiertem Kolorektalkarzinom konnte in einer multizentrischen pharmakoepidemiologischen Kohortenstudie erstmalig aufgezeigt werden, dass die supportive Misteltherapie (Iscador Qu) zusätzlich zur Chemo-/Radiotherapie maßgeblich zur Verbesserung der Fatigue-Symptomatik beitrug [104].
Im Rahmen einer Anwendungsbeobachtungsstudie bei Patient*innen mit lymphozytischem Non-Hodgkin-Lymphom (CLL) wurde deutlich, dass Mistelextrakte (Helixor A) sicher angewendet werden können [105] und sowohl die Lebensqualität als auch die Immunkompetenz verbessern [106].
In einer qualitativen Studie wurden 35 auf integrativmedizinisch-anthroposophische Therapien spezialisierte Ärzt*innen zu ihren Erfahrungen mit der Misteltherapie bei onkologischen Patient*innen befragt. Es zeigte sich, dass die Misteltherapie dazu beiträgt, die Erkrankung zu stabilisieren, das Allgemeinbefinden zu verbessern, Vitalität und Kraft zu stärken, Atemnot und Kachexie zu verringern, das Wärmeempfinden sowie Appetit und Schlaf zu verbessern, die Schmerzen infolge von Knochenmetastasen zu verringern sowie die krankheitsassoziierte Fatigue-Symptomatik und die Chemotherapie-bedingten Nebenwirkungen deutlich zu reduzieren [79].
Eine multizentrische pharmakoepidemiologische Studie bei Patient*innen mit Pankreaskarzinom (n=396) zeigte, dass eine zusätzliche Misteltherapie (Iscador) ergänzend zur Chemotherapie (hauptsächlich mit Gemcitabin) oder im Rahmen von Best Supportive Care geeignet ist, um die tumorassoziierten Symptome zu verringern und das Leben zu verlängern [45].
Eine prospektive Real-World Data Studie des Registers des Netzwerks Onkologie zeigte, dass 30% der insgesamt 87 Patient*innen mit Lungenkarzinom mit einem mittleren Alter von 68 Jahren zum Diagnosezeitpunkt von finanziellen Schwierigkeiten bereits vor der onkologischen Behandlung berichteten, welche nach adjustierter multivariabler Regressionsanalyse insbesondere mit Schmerzen (p=0,03) und jüngerem Alter (p=0,02) assoziiert waren. Die Studie unterstreicht, dass die emotionalen und körperlichen Bedürfnisse von Patient*innen mit Lungenkarzinom vor und während der Frühbehandlung berücksichtigt werden sollten, wie es in integrativen und supportiven Tumortherapiekonzepten vorgeschlagen wird [306].
In einer Real-World Data Längsschnittstudie des Netzwerks Onkologie erhielten Patientinnen mit primärem, nicht-metastasiertem Mammakarzinom (n=319) eine onkologische Standardtherapie, die bei 40 Prozent der Patientinnen mit einer Misteltherapie kombiniert wurde. Es wurde u.a. die tumorassoziierte Fatigue zu Studienbeginn sowie 6, 12 und 24 Monate später ausgewertet. Nach 6 und 12 Monaten wurde bei den mit Chemotherapie (Ctx) behandelten Patientinnen eine Verschlechterung der Fatigue beobachtet. Bei den Patientinnen, die Misteltherapie, aber keine Ctx erhielten, wurden 24 Monate später signifikante positive Auswirkungen auf die Thermokohärenz, die Müdigkeit und bei sieben EORTC QLQ-C30-Skalen beobachtet. Eine adjustierte multivariable Langzeit-Subgruppen-Regressionsanalyse (n=106) ergab, dass Ctx, immunologische und endokrine Therapien eine Verschlechterung von 17, 17 bzw. 6 Punkten bei der EORTC QLQ-C30-Skala Fatigue bewirkten (p=0,0004), während durch die Misteltherapie eine Verbesserung von 12 Punkten erzielt werden konnte. In der vorliegenden Studie hatte die zusätzliche Misteltherapie eine unterstützende Wirkung auf die tumorbedingte Fatigue, Schlaflosigkeit, körperliche Funktionsfähigkeit und Thermokohärenz [284].
Eine weitere Real-World Data Längsschnittstudie des Netzwerks Onkologie bei Patientinnen mit primärem, nicht-metastasiertem Mamma-Karzinom (n=231) zeigte, dass neben der zusätzlichen Misteltherapie auch nicht-pharmakologische Interventionen wie Pflegekompressen (p=0,0002; R² = 28%) oder ausführliche Beratungsgespräche und Biographiearbeit (p=0,0002; R² = 25%) zur Verbesserung der tumorassoziierten Fatigue führten. Brustkrebspatientinnen profitieren somit von einem krankenhausbasierten Programm der integrativen Medizin und es sollte in Zukunft eine Erweiterung dieses Konzepts entwickelt werden, um Fatigue-Symptome während der onkologischen Therapie zu lindern [311].
Verlängertes Überleben
In zwei Versorgungsforschungsstudien des Netzwerks Onkologie ließ sich ein verlängertes Überleben bei onkologischen Patient*innen feststellen, wenn sie zusätzlich zum leitlinienorientierten Standard eine Misteltherapie erhielten [100, 101]. Das betraf zum einen Patient*innen mit metastasiertem nicht-kleinzelligem Lungenkarzinom (NSCLC) [100], zum anderen Patient*innen mit fortgeschrittenem, metastasiertem Pankreaskarzinom [101] (siehe auch die Angaben unter klinische Studien).
Bereits vorher hatte sich in einer Versorgungsforschungsstudie des Registers des Netzwerks Onkologie am Beispiel einer Klinik mit anthroposophischem Konzept (Klinik Öschelbronn) gezeigt, dass das mediane Überleben bei Patient*innen mit einem Pankreaskarzinom Stadium III/IV, von denen 91% eine Misteltherapie erhalten hatten, mit 12,4 Monaten deutlich verlängert war im Vergleich zu bisher publizierten Studienergebnissen (6 bis 9 Monate) [102].
Eine weitere Real-World Data Studie des Registers des Netzwerks Onkologie deutet auf eine positive Wirkung der additiven Misteltherapie (VA) auf das Überleben von 275 Patienten mit NSCLC im Stadium I bis IIIA hin (Durchschnittsalter 67,6 Jahre, 57,2% männliche Patienten). Auch wenn zwischen den beiden Gruppen kein statistisch signifikanter Unterschied bezüglich des Überlebens festgestellt wurde, konnte für eine Untergruppe von nicht operierten Patienten mit NSCLC im Stadium I (Adeno- oder Plattenepithelkarzinom) ein positiver klinischer Effekt beim Überleben für die Patient*innen mit der kombinatorischen Therapie im Vergleich zur alleinigen onkologischen Standardtherapie beobachtet werden. Zudem deuten die Ergebnisse auf einen möglichen Effekt einer zusätzlichen Misteltherapie bei nicht operierten Patient*innen hin [100].
Die Kombination von PD-1/PD-L1-Inhibitoren und Mistelpräparaten war in einer Real-World Data-Studie mit einem signifikant verbesserten Überleben von Patient*innen mit fortgeschrittenem oder metastasiertem nicht-kleinzelligem Lungenkarzinom (NSCLC) assoziiert [332]. Die mediane Überlebenszeit stieg in der Kombinationsgruppe um sieben Monate (13,8 vs. 6,8 Monate), während das Sterberisiko um 40% reduziert wurde, bei PD-L1-positiven Tumoren sogar um 56%. Diese Ergebnisse unterstreichen das Potenzial der Misteltherapie als ergänzende Maßnahme zur Immuncheckpoint-Inhibition.
Die Kombination von Immuncheckpoint-Blockade (ICB) mit einer Misteltherapie mit abnobaVISCUM verlängerte in einer weiteren Real-World Data-Studie [340] das Überleben von Patient*innen mit fortgeschrittenem oder metastasiertem nicht-kleinzelligem Lungenkarzinom (NSCLC) signifikant. Patient*innen der Kombinationsgruppe lebten im Median sieben Monate länger (13,8 vs. 6,8 Monate), und das Sterberisiko wurde bei PD-L1-positiven Tumoren um 75% reduziert. Diese Ergebnisse, könnten möglicherweise auf Mechanismen wie der Immunmodulation und Tumormikromilieu-Veränderungen zurückgeführt werden. Die Studien erfordern weitere Validierung durch randomisierte kontrollierte Studien. Zudem ist es wichtig, die Mechanismen der kombinatorischen Therapie zu verstehen.
Kosten-/Wirksamkeitsnachweis
Bei Patient*innen mit metastasiertem Pankreaskarzinom ergab eine Kosten-Effektivitäts-Analysestudie für die kombinierte onkologische Standardbehandlung plus Misteltherapie im Vergleich zur alleinigen Standardbehandlung niedrigere Krankenhauskosten pro mittlerem Monat Gesamtüberlebenszeit [285]. Dies konnte ebenso für Patient*innen mit metastasiertem nicht-kleinzelligem Lungenkarzinom bestätigt werden [286,305].